Einzigartig bis zum Schluss
Text: Thorsten Bayer
Fotos und Video: Markus Gmeiner/Yohana Papa Onyango
Diplom-Sozialbetreuerin Julia Riedesser stellt im Jesuheim Lochau die individuellen Biografien der Bewohner in den Mittelpunkt.
Das Panorama beeindruckt. Nur ein kleiner Spaziergang trennt das Lochauer Zentrum vom Jesuheim. Doch diese kurze Strecke Richtung Pfänder genügt, um einen weiten Ausblick auf den Bodensee und die Schweizer Berge zu genießen. Hier oben werden 108 Bewohner von fünf Schwestern und über 100 weltlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen versorgt. Eine von ihnen ist Julia Riedesser aus Lustenau.
„Bei uns herrscht eine ganz familiäre Atmosphäre“, findet sie, „das erlebt man in dieser Form selten.“ Eine soziale Ader hatte die 42-Jährige schon immer. Wenn in der Schule jemand als Sonderling galt und ausgeschlossen wurde, fand sie einen Draht zu ihm oder ihr. Nach dem Gymnasium machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Jugendarbeit. Danach suchte sie einen Praktikumsplatz und stieß zufällig auf das Pflegeheim Wolfurt – ein Volltreffer. Nach kurzer Zeit wusste sie: „Der Umgang mit alten Menschen liegt mir, ich kann etwas bewirken. In dieser Branche fühle ich mich zuhause.“
Erinnerungskultur
Nach der Ausbildung und den ersten Berufsjahren wurde ihr eins immer klarer: Pflege bedeutet nicht nur „Warm – Satt – Sauber“, es geht um mehr. „Natürlich ist es wichtig, die Erkrankungen der Bewohner, allen voran Demenz, richtig zu behandeln. Doch Geborgenheit spielt beispielsweise ebenso eine große Rolle.“ Antworten auf die Frage, wie sie Lebensqualität finden und spüren können, findet Julia Riedesser in den individuellen Biografien der Bewohner. Zwei Beispiele machen deutlich, was sie meint: „Ein Herr war sein Leben lang Bauer, hat ein Faible für Landmaschinen und eine spezielle Bettwäsche mit Landmaschinen-Motiven mit ins Heim gebracht. Ich sorge jetzt dafür, dass sie gleich nach dem Waschen wieder aufgezogen wird, auch dann, wenn er selbst nicht mehr in der Lage ist, dies zu äußern.“
Ein anderer ehemaliger Bewohner liebte Segeln und Segelboote. Seine Lebensgefährtin gab uns für sein Zimmer einen Rettungsring und selbst gezeichnete Bilder seiner Boote. „Ich habe ihm dann den Rettungsring immer wieder in die Hand gegeben, Meeresrauschen abgespielt und seine Hände mit Sonnencreme massiert“, erinnert sich Julia Riedesser an die „wunderbare Zusammenarbeit zwischen der Lebensgefährtin und unserem Team“.
Lebensende in Würde
Dieser Ansatz gilt auch und besonders kurz vor dem Tod. Einmal durfte der Hund im Sterbebett seines Frauchens liegen bleiben. Das war Mensch und Tier wichtig. „Und wenn jemand immer Marmeladebrote geliebt hat, bin ich dafür, dass er diese statt der hochkalorischen Nahrung auch ganz am Ende haben darf.“ Sie arbeitet häufig mit Menschen, deren Krankheiten nicht mehr heilbar sind. Die Chance auf Fortbildungen zur Palliativpflege hat sie im Jesuheim gerne wahrgenommen. Das Thema ist ihr spürbar wichtig. Sie sagt sogar: „Es gibt nichts Schöneres, als jemanden bis zum Schluss in Würde begleiten zu dürfen. Auch ein Sterbender hat ein Recht auf Qualität.“
Dazu tragen aus ihrer Sicht die Schwestern – Träger des Jesuheims sind die Barmherzigen Schwestern von Zams – wesentlich bei: „Wenn jemand Seelsorge braucht, sind sie da, ohne sich aufzudrängen. Das ist ein riesengroßer Rückhalt für die Bewohner.“ Zur Sonntagsmesse dürfen auch externe Besucher kommen. Jede der fünf Schwestern hat ihren eigenen Aufgabenbereich, nur eine ist direkt in der Pflege tätig.
Vielfältige Angebote
Das Personal lässt sich für die Bewohner einiges einfallen. Möglichkeit zur Bewegung beispielsweise haben sie bei zwei fixen Terminen pro Woche, der Bewegungsrunde sowie „Fit mach mit“. Wer sich künstlerisch betätigen möchte, trifft sich donnerstags mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Malen. Es gibt einen wöchentlichen Marktstand, an dem sie selbst frisches Obst und Gemüse einkaufen können. Wer gerne kocht oder backt, hat dazu ebenso Gelegenheit. Julia Riedesser lädt mit einer Kollegin ins „Erzählcafé“. Die Erinnerungen von dementen Bewohnern, die in ihrer eigenen Welt leben, sollen wieder wach werden. „Wir ermuntern sie, Geschichten von früher zu erzählen“, erklärt Riedesser. Heute Nachmittag wird es um Berufe gehen. Für eine ehemalige Schneiderin hat sie einige Stoffe mitgebracht, Bindedraht soll das Gedächtnis einer früheren Floristin unterstützen. Ihre Aufgabe in der Altenarbeit sieht sie darin, „allen gerecht zu werden und die Individualität von jedem Einzelnen in der Struktur des Pflegeheims leben zu lassen“.
Sozialbetreuerin / Sozialbetreuer
Mitarbeitende der Sozialbetreuungsberufe begleiten Menschen umfassend. Im Fokus stehen soziale Bedürfnisse wie Körperpflege, Ernährung, Wohnen, aber auch sozialrechtliche Fragen. Arbeitssuchende, die eine Ausbildung als HeimhelferIn, Fach-SozialbetreuerIn oder Diplom-SozialbetreuerIn anstreben, erhalten finanzielle Unterstützung.
Das gelingt ihr offenbar sehr gut: 2016 gewann sie beim Wettbewerb „PflegerIn mit Herz“, bei dem der Wiener Städtische Versicherungsverein jedes Jahr pro Bundesland zwei Kandidaten auszeichnet. Diese Wertschätzung freut sie heute noch – ausdrücklich nicht nur für sie persönlich, sondern für die besondere Arbeit allgemein.
In ihrer Freizeit zieht es sie ans Wasser, entweder direkt nach Dienstschluss ans Lochauer Bodenseeufer oder zuhause an den Alten Rhein. Ihr Mann ist Hobbymusiker und hat vor Kurzem bei einem Freund ein eigenes Singer-Songwriter-Album aufgenommen. „Da habe ich ein bisschen im Background mitgesungen“, erzählt sie mit ihrem sympathischen, ansteckenden Lachen. Ihre positive Art kommt ihr im Job zugute. „Halt geben – mit Freude leben“ lautet der Grundsatz der Barmherzigen Schwestern von Zams. Für Julia Riedesser bedeutet er, die Bewohner in schwierigen Situationen aufzufangen und für sie da zu sein. Gleichzeitig ist es ihr wichtig, den Fokus zu verlagern: „Weg vom Gedanken ‚Ich bin alt und krank‘ – hin zum ‚Ich bin immer noch der Mensch, der ich war, mit meinem Charakter und meinen Vorlieben‘.“
Einzigartig bis zum Schluss
Text: Thorsten Bayer
Fotos und Video: Markus Gmeiner/Yohana Papa Onyango
Diplom-Sozialbetreuerin Julia Riedesser stellt im Jesuheim Lochau die individuellen Biografien der Bewohner in den Mittelpunkt.
Das Panorama beeindruckt. Nur ein kleiner Spaziergang trennt das Lochauer Zentrum vom Jesuheim. Doch diese kurze Strecke Richtung Pfänder genügt, um einen weiten Ausblick auf den Bodensee und die Schweizer Berge zu genießen. Hier oben werden 108 Bewohner von fünf Schwestern und über 100 weltlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen versorgt. Eine von ihnen ist Julia Riedesser aus Lustenau.
Erinnerungskultur
Nach der Ausbildung und den ersten Berufsjahren wurde ihr eins immer klarer: Pflege bedeutet nicht nur „Warm – Satt – Sauber“, es geht um mehr. „Natürlich ist es wichtig, die Erkrankungen der Bewohner, allen voran Demenz, richtig zu behandeln. Doch Geborgenheit spielt beispielsweise ebenso eine große Rolle.“ Antworten auf die Frage, wie sie Lebensqualität finden und spüren können, findet Julia Riedesser in den individuellen Biografien der Bewohner. Zwei Beispiele machen deutlich, was sie meint: „Ein Herr war sein Leben lang Bauer, hat ein Faible für Landmaschinen und eine spezielle Bettwäsche mit Landmaschinen-Motiven mit ins Heim gebracht. Ich sorge jetzt dafür, dass sie gleich nach dem Waschen wieder aufgezogen wird, auch dann, wenn er selbst nicht mehr in der Lage ist, dies zu äußern.“
Ein anderer ehemaliger Bewohner liebte Segeln und Segelboote. Seine Lebensgefährtin gab uns für sein Zimmer einen Rettungsring und selbst gezeichnete Bilder seiner Boote. „Ich habe ihm dann den Rettungsring immer wieder in die Hand gegeben, Meeresrauschen abgespielt und seine Hände mit Sonnencreme massiert“, erinnert sich Julia Riedesser an die „wunderbare Zusammenarbeit zwischen der Lebensgefährtin und unserem Team“.
Lebensende in Würde
Dieser Ansatz gilt auch und besonders kurz vor dem Tod. Einmal durfte der Hund im Sterbebett seines Frauchens liegen bleiben. Das war Mensch und Tier wichtig. „Und wenn jemand immer Marmeladebrote geliebt hat, bin ich dafür, dass er diese statt der hochkalorischen Nahrung auch ganz am Ende haben darf.“ Sie arbeitet häufig mit Menschen, deren Krankheiten nicht mehr heilbar sind. Die Chance auf Fortbildungen zur Palliativpflege hat sie im Jesuheim gerne wahrgenommen. Das Thema ist ihr spürbar wichtig. Sie sagt sogar: „Es gibt nichts Schöneres, als jemanden bis zum Schluss in Würde begleiten zu dürfen. Auch ein Sterbender hat ein Recht auf Qualität.“
Dazu tragen aus ihrer Sicht die Schwestern – Träger des Jesuheims sind die Barmherzigen Schwestern von Zams – wesentlich bei: „Wenn jemand Seelsorge braucht, sind sie da, ohne sich aufzudrängen. Das ist ein riesengroßer Rückhalt für die Bewohner.“ Zur Sonntagsmesse dürfen auch externe Besucher kommen. Jede der fünf Schwestern hat ihren eigenen Aufgabenbereich, nur eine ist direkt in der Pflege tätig.
Sozialbetreuerin / Sozialbetreuer
Mitarbeitende der Sozialbetreuungsberufe begleiten Menschen umfassend. Im Fokus stehen soziale Bedürfnisse wie Körperpflege, Ernährung, Wohnen, aber auch sozialrechtliche Fragen. Arbeitssuchende, die eine Ausbildung als HeimhelferIn, Fach-SozialbetreuerIn oder Diplom-SozialbetreuerIn anstreben, erhalten finanzielle Unterstützung.
Das Personal lässt sich für die Bewohner einiges einfallen. Möglichkeit zur Bewegung beispielsweise haben sie bei zwei fixen Terminen pro Woche, der Bewegungsrunde sowie „Fit mach mit“. Wer sich künstlerisch betätigen möchte, trifft sich donnerstags mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Malen. Es gibt einen wöchentlichen Marktstand, an dem sie selbst frisches Obst und Gemüse einkaufen können. Wer gerne kocht oder backt, hat dazu ebenso Gelegenheit. Julia Riedesser lädt mit einer Kollegin ins „Erzählcafé“. Die Erinnerungen von dementen Bewohnern, die in ihrer eigenen Welt leben, sollen wieder wach werden. „Wir ermuntern sie, Geschichten von früher zu erzählen“, erklärt Riedesser. Heute Nachmittag wird es um Berufe gehen. Für eine ehemalige Schneiderin hat sie einige Stoffe mitgebracht, Bindedraht soll das Gedächtnis einer früheren Floristin unterstützen. Ihre Aufgabe in der Altenarbeit sieht sie darin, „allen gerecht zu werden und die Individualität von jedem Einzelnen in der Struktur des Pflegeheims leben zu lassen“.
Das gelingt ihr offenbar sehr gut: 2016 gewann sie beim Wettbewerb „PflegerIn mit Herz“, bei dem der Wiener Städtische Versicherungsverein jedes Jahr pro Bundesland zwei Kandidaten auszeichnet. Diese Wertschätzung freut sie heute noch – ausdrücklich nicht nur für sie persönlich, sondern für die besondere Arbeit allgemein.
In ihrer Freizeit zieht es sie ans Wasser, entweder direkt nach Dienstschluss ans Lochauer Bodenseeufer oder zuhause an den Alten Rhein. Ihr Mann ist Hobbymusiker und hat vor Kurzem bei einem Freund ein eigenes Singer-Songwriter-Album aufgenommen. „Da habe ich ein bisschen im Background mitgesungen“, erzählt sie mit ihrem sympathischen, ansteckenden Lachen. Ihre positive Art kommt ihr im Job zugute. „Halt geben – mit Freude leben“ lautet der Grundsatz der Barmherzigen Schwestern von Zams. Für Julia Riedesser bedeutet er, die Bewohner in schwierigen Situationen aufzufangen und für sie da zu sein. Gleichzeitig ist es ihr wichtig, den Fokus zu verlagern: „Weg vom Gedanken ‚Ich bin alt und krank‘ – hin zum ‚Ich bin immer noch der Mensch, der ich war, mit meinem Charakter und meinen Vorlieben‘.“