Selbst ist die Frau
Selbst ist die Frau
Text: Thorsten Bayer
Fotos und Video: Markus Gmeiner/Yohana Papa Onyango
Über 30 Operationen haben der Ranklerin Jutta Sturn nicht ihre Lebensfreude und ihren Humor nehmen können. Mit Unterstützung durch den Mobilen Hilfsdienst, den Krankenpflegeverein und die Familie hat sie sich ihr Leben gut organisiert.
Ihr Umgang mit der Krankheit hat etwas Entwaffnendes. „Mein Sohn Alexander witzelt immer wieder, dass ich heuer noch eine Party zum runden Jubiläum feiern sollte: 50 Jahre Rheuma“, erzählt Jutta Sturn selbst mit einem Lächeln. Sie war erst sechs Jahre alt, als sie nach einem längeren Aufenthalt in der Innsbrucker Kinderklinik die Diagnose bekam: chronische Polyarthritis. Viele Gelenke, vor allem an Fingern und Zehen, entzünden sich dauerhaft. Teilweise kann die Krankheit auch die Weichteile befallen. „Meine Eltern haben damals gesagt, ich hätte noch Glück im Unglück, weil bei mir nur die Gelenke betroffen sind“, erinnert sie sich. Wie es zu dieser Störung im Immunsystem kommt, ist unklar.
1981 brachte sie ihren gesunden Sohn zur Welt. Nach seiner Geburt verschlechterte sich ihr Zustand rasant. Drei Jahre später stand die erste Hüftoperation an, rund 30 Eingriffe sollten folgen: „Alexander ist mehr oder weniger im Spital aufgewachsen.“ So ist es vielleicht kein Zufall, dass er sich für eine medizinische Laufbahn entschied und heute als Krankenpfleger im Bregenzer Krankenhaus arbeitet. Seine Frau ist Pflegehelferin, ebenfalls mit Diplom.
Umfassend versorgt
Trotz der schweren Krankheit kam die alleinstehende Jutta Sturn lange Zeit gut allein zurecht: „Ich war ziemlich selbständig und habe alles selbst gemacht.“ So kümmerte sie sich sogar, unterstützt von Sohn, Schwiegertochter und ihrer engen Freundin Claudia, um ihre demente Mutter, die unbedingt zuhause sterben wollte. Diesen Wunsch konnte Jutta Sturn erfüllen. An diese sieben Monate Pflege erinnert sie sich als eine „schwere und schöne Zeit“, in der sie zurückgeben konnte, was die Mutter ihr als krankem Kind selbst gegeben hatte.
Im Mai 2017 brach sich Jutta Sturn die Elle, zum ersten Mal war sie auf Hilfe angewiesen. „Da ist für mich eine Welt zusammengestürzt. Anfangs war es für mich ganz schlimm, dass eine fremde Frau zum Helfen ins Haus kommt.“ Diese „fremde Frau“ ist Gerlinde Wallner, Mitarbeiterin des Mobilen Hilfsdienstes Rankweil. Anfangs war sie jeden Tag, von Montag bis Sonntag, eine Stunde bei Jutta Sturn, um ihr beim Waschen und Anziehen zu helfen, Frühstück vorzubereiten und für sie einzukaufen. Später, als die Wunde verheilt war und der Gips am Arm entfernt wurde, reduzierten sich ihre wöchentlichen Besuche von sieben auf fünf – das Wochenende hatte sie nun frei. Zusätzlich schickte der Mobile Hilfsdienst einmal in der Woche eine Helferin zur Unterstützung im Haushalt. Zweimal kamen Mitarbeiterinnen des Krankenpflegevereins vorbei und übernahmen beispielsweise das Duschen.
Eis essen
In der Zwischenzeit schloss Gerlinde Wallner ihre Ausbildung zur Heimhelferin ab und konnte von nun an ihre Klientin selbst duschen. Seither ist der Krankenpflegeverein nur noch bei Bedarf zu Gast im Hause Sturn, um zu überprüfen, wie es Jutta geht. Das anfängliche Fremdeln zwischen Gerlinde Wallner und Jutta Sturn ist längst vorbei. „Wir haben uns gefunden“, sagt die MoHi-Helferin. Mittlerweile sind sie mehr als nur ein gut eingespieltes Team, eine Freundschaft ist entstanden. Hin und wieder gehen die beiden Frauen zusammen ein Eis essen. „Da lassen wir uns nicht lumpen“, erzählt Jutta Sturn lachend. Diese Lebensfreude, diesen Humor schätzt Gerlinde Wallner an ihr. Auf ihre Klientin lässt sie nichts kommen. Nur die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit machen ihr etwas zu schaffen: Sie hofft, dass das Land bald mehr Fixanstellungen für MoHi-Helferinnen freigibt.
Pflegebedürftige wollen zuhause leben
Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden in Vorarlberg zuhause gepflegt, insgesamt rund 15.000 Menschen. Für sie gibt es vielfältige Unterstützung durch Mobile Hilfsdienste, Krankenpflegevereine, 24-Stunden-Betreuung, Tagesbetreuungen etc. Erste Anlaufstelle für alle Fragen sind die Case-ManagerInnen in jeder Gemeinde.
Mit großem Einsatz
Nach der Karenz hatte Jutta Sturn nicht in ihren Beruf als Arzthelferin zurückkehren können – ein Umstand, der sie heute noch ärgert: „Ich habe wahnsinnig gern gearbeitet. Doch dann hat man mich in die Berufsunfähigkeit geschickt. Das war der Wunsch der Ärzte, nicht meiner.“ Anders als in einer Invaliditätspension durfte sie nichts dazuverdienen.
Ihren spürbaren Willen sich zu engagieren, den sie beruflich nicht ausleben konnte, brachte sie stattdessen in ehrenamtliche Tätigkeiten ein: Sie gründete eine Selbsthilfegruppe für Rheumapatienten und übernahm die Posten als Vizepräsidentin der österreichischen Rheumaliga und Obfrau der Landesgruppe Vorarlberg. Ein jährlicher Rheumatag im Land geht auf ihren großen Einsatz zurück. Inzwischen hat sie diese Ämter an andere übergeben.
Blick nach vorn
Jutta Sturns Krankenakte ist lang. Im Sommer wurde ihr in Feldkirch eine neue künstliche Hüfte eingesetzt („ein Hightech-Modell“, wie sie sagt). Sie kam zur Nachsorge ins Landeskrankenhaus Rankweil – und musste wenig später dank eines gebrochenen Knöchels wieder den Rückweg ins Feldkircher Spital antreten. Nach zwei Wochen dort ging es zurück zur Nachsorge in Rankweil. Auch während dieser Zeit in den Spitälern ist der Kontakt zu Gerlinde Wallner nicht abgerissen. Zweimal pro Woche kommt sie zu Besuch in die Valduna, in der Zwischenzeit telefonieren die beiden.
Für die Zeit, wenn sie wieder nach Hause kann, ist alles bereits organisiert: Gerlinde wird sie anfangs wieder täglich betreuen. Auch der Krankenpflegeverein ist informiert und wird ihr zur Seite stehen. Auf eines freut sie sich am meisten, wenn sie nach Hause kommt – nämlich darauf, ihre beiden Enkel von der Schule abzuholen. Zum Jahreswechsel wird sie in eine neue, komplett barrierefreie Wohnung übersiedeln. Eine Menge Arbeit liegt rund um diesen Umzug vor ihr, doch sie freut sich auf diesen Schritt. Mit ihrer positiven Einstellung und den helfenden Händen um sie herum hat sie allen Grund, optimistisch nach vorne zu schauen.